INGE SCHMIDT   Bildhauerin
Bauhölzer, Klebeband und die Poesie des Unscheinbaren

Die staksigen Skulpturen von Inge Schmidt lassen sich schwer in Worte fassen. Eine bloße Beschreibung trifft ihre Verbindung aus stolzer Selbstbehauptung und anrührender Bescheidenheit nicht einmal am Rand. Ihre "armen" Materialien - Bauhölzer, Karton, Stoffe, Klebeband, Draht - geben ihnen etwas Franziskanisches - ganz ohne Heiligenschein. Sie besiedeln eine geheimnisvolle Grauzone zwischen Aura und Alltäglichkeit, die Inge Schmidt ebenso unprätentiös wie sicher bespielt.

Alle Metaphern bleiben unbefriedigend. Sind das "skulpturale Akrobaten", deren Gravitation uns kunstvoll neckt, wie Gerhard Kolberg beobachtet? Oder fragile Widerständler, Gleichnisse für die "Brüchigkeit und Verletztlichkeit menschlicher Existenz", wie Klaus Fleming interpretiert: subversive Gesten gegen eine Welt der Perfektion, Funktionalität, Stabilität? Worin besteht die eigentümliche Poesie dieser prosaischen Gestänge und Gefüge, locker gebündelten Stakatenbüschel und Behältnisse?

Auf den ersten Blick: Eindrücke einer subtilen De-Komposition, die sich, ungeachtet aller Zerbrechlichkeit, immer wieder faßt und festigt. Inge Schmidt bewegt sich souverän zwischen Stabilität und Labilität. Auch dichte Fügungen und feste Ordnungen öffnen sich einer potentiellen Ponderation. Fixierungen sind keine Pression, sondern von sorgfältig arrangierter Fragilität. Gelenkstücke erscheinen wie Wunden abgeklebt und umschlungen. Ästhetik und Subversion stehen in behutsamem Gleichgewicht.

Dieses Leichthändige zieht sich durch alle Wandlungen hindurch. Anfangs der 80er Jahre schnürt Inge Schmidt schmalwüchsig gewundene Gebilde aus formbarem, flexiblem Naturmaterial: Ästen, Faden, Leim. Fetischartige oder totemistische Assemblagen mit einer deutlich ethnographischen Reminiszens. In den 90er Jahren verschwindet das knorrige Astwerk und schnörkelnde Pappmaché mehr und mehr. Inge Schmidt wendet sich locker vertikalisierten Konstruktionen aus Bauhölzern zu. Hochgestelzten oder im Schritt gespreizten dünnen Vierkantstäben, die neben die Äste rücken, auf Stufenpodesten und mit Stoffresten oder herabhängenden Kordeln. Gebündelt oder vierfüßig aufgebockt. Was im Atelier versammelt ist, strafft sich zu einer augenhohen Skyline voller Überschneidungen. Das Grundthema - Stehen, Lagern, Stützen, Hängen - tritt hervor. Doch die Senkrechten stammen nicht vom Lotblei, sondern von der Grazilität der Schachtelhalme und Rispen. Wo Waagrechte kontern, sichern sie Stand und Raum, aber sie fundamentieren nicht. Schrägen verstreben und verklammern nicht diagonal: Sie bleiben Neigungen, die Zuneigungen sind. Konstruktives und Oganisches, Bauen und Wachsen durchdringen sich. Notwendiges und Beiläufiges kommen dazu.

Dabei führen diese Gebilde ihr eigenes, behutsames Leben. Sie lassen zwar Assoziationen zu, aber die Distanz zum Betrachter wird nicht narrativ oder gar anekdotisch überbrückt. Selbst unser Körpergefühl verweigert sich dieser leichtgliedrigen Physikalität. Ihre Eigenart vollziehen wir körperlich nicht nach. Sie sind, anders als bei Künstlern wie Wolfgang Nestler oder Alf Schuler, keine Schwebebalken für unsere körperliche Empathie. Jede Skulptur bleibt, bei aller Nähe, ganz für sich. Sie hat ihren "eigenen Stand" (Inge Schmidt), mit dem wir selber, schwergliedrig und massiv, nicht kompatibel sind. Jede bleibt eine Persönlichkeit eigener Art - und bewahrt etwas von Distanz und Würde eines Objektes. Erinnerungen an Tisch, Stuhl, Regal ziehen an uns vorbei, um gleich wieder an Fragment und Andeutung zurückzufallen. Sie signalisieren Fetzen von Funktion und orientieren sich doch gleich wieder zum Nutzlosen, Abstrakten hin. Erstaunlicherweise wirkt das nicht unentschieden. Im Gegenteil, die Skulpturen sind von einer einprägsamen Entschiedenheit, die nicht in Zwecken, sondern im Zweckfreien, Offenen und Abstrakten gründet.

Gilt das auch für die neueren Arbeiten? Baut Inge Schmidt hier nicht tatsächlich regal- oder kistenähnliche Gehäuse und bockt (fast schon) nutzbare Tische auf? In einem Schrank mit Fächern liegen, stehen, lehnen Papierrollen. Sie scheinen zu warten, was mit ihnen geschieht, aber sie markieren auch Grundrichtungen. Ihre Bestimmung ist unklar, aber sie entgegnen dem leeren Raum. Sie belegen das Innere und betonen dadurch die Hermetik der nebenan stehenden (fast) geschossenen Version. Sie machen das Verborgene zum Thema und enthüllen gleichzeitig seine Banalität. Auch das macht aus ihnen eine Strategie der Abstraktion.

Was bei den Skulpturen auffällt, ist ihre Unabhängigkeit. Schweben sie frei über Einflüssen und Anregungen? Kurt Schwitters mit seiner ästhetischen Apotheose des Weggeworfenen, Nutzlosen? Inge Schmidt vermeidet alle koloristische Kostbarkeit und klassische Komposition. Die 60er Jahre mit ihrem Sinn für Alltägliches, für Müllkippe und Trödelmarkt? Inge Schmidt unterscheidet nicht zwischen Fundsache und Neuzuschnitt und überzieht ihre Welt mit der fahlen Farbigkeit einer nuancierten Palette. Stellvertreter für das "Leben" sind die Einsprengsel aus der Realität nicht. Eher verwachsen sie zu einer eigenen Kunstwelt, deren karger Lyrismus auf Distanz zur Wirklichkeit geht.

Auch die Zeichnungen besitzen zunächst eine starke Autonomie. Sie sind Zeichnungen über das Zeichnen: vom lockeren Streicheln des Stiftes über den exakt gezogenen Riß bis zur wolkigen Aquarellistik des farbigen Widerscheins. Exemplarische Arbeiten auf Papier, mit Stift und Pinsel: Strich, Linie, Wischer, auf sich selbst konzentriert und sich selbst genug.

Geben die Blätter zusätzlich über die Skulpturen Bescheid? Inge Schmidt hielt sie lange in Mappen und Schubladen zurück. Dabei orientieren sie (wenn man will) unser Verständnis der Plastik neu. Vogelmenschen mit gefiedertem Kopfputz, Personen, die ihre drehende Bewegung als Ornament um sich schlingen, eine klauenartige Hand - kein Zweifel, diese Zeichnungen können Anlaß sein, auch auf die Skulpturen einen Hauch von Figuration, ja Gestikulation zu projizieren. So leichthändig diese commedie humaine zwischen Möbel und bunte Wolken gestreut ist, so erkennbar tanzt, wirbelt, verbeugt sie sich: spielt Theater. Ein regelrechtes dramatis personae, das ein Bühnenleben auch der Skulpturen andeutet, ohne sie festzulegen. Irgendwelche illustrativen Details haben die Skulpturen dabei nicht. Ein weiteres kommt dazu. Ein Dreieckswesen mit vier Büroklammern ruft den Humor wach, der auch in manchen Skulpturen steckt. Ein ergebenster Diener, der sich bis zum Boden bückt, erinnert an den Knick, der zwei Holzstangen bricht. Stöcke, die abstolpern über ihre eigenen Beine? Fangen die Skulpturen nicht plötzlich zu gestikulieren an? Flößen die Zeichnungen ihnen, zusätzlich zum Theater, nicht auch Humor ein, der sonst leicht verloren geht?

Manfred Schneckenburger
Juni 2001