INGE SCHMIDT   Bildhauerin
Ernsthafte Helligkeit

Sie kauern auf dem Boden, lehnen an der Wand, strecken sich nach oben, hängen vor der Decke, suchen festen Stand und schreiten voran. Wie verletzliche Individuen, die sich ihrer eigenen Existenz noch nicht sicher sind, tasten sie in den Raum, nehmen Kontakt zueinander auf, finden sich zu Gruppen zusammen, als wollten sie sich gegenseitig schützen und stützen. Die "plastischen Stücke" von Inge Schmidt widersprechen den eingeübten Erwartungen, dass die Skulptur als monolithisches Volumen den Raum besetzt und verdrängt, dass sie massiv und schwer und vollendet und ganz und dauerhaft ist. Obwohl diese Vorstellung längst nicht mehr die historische Wandlung des Skulptur-Begriffs und dessen mediale Offenheit in der gegenwärtigen Kunst abbildet, besitzen die Arbeiten von Inge Schmidt auch innerhalb dieser Offenheit ein eigensinniges Irritationspotential. Allein die Beharrlichkeit, mit der Inge Schmidt am Begriff des "plastischen Stücks" festhält, benennt die Bescheidenheit einer Haltung, der das Fertige, Vollständige, Endgültige und vor allem der dahinter stehende Anspruch grundsätzlich suspekt sind.

Der erste Schritt für die Künstlerin ist, das Volumen soweit zu reduzieren, dass sich die Objekte gerade noch halten können, auf schlanken Beinen und schmalen Plinthen balancieren, zur Wand hin kippen, denn, "das, was mich interessiert, ist, von der Schwere am Boden wegzukommen [...]. Masse an sich ist mir unsympathisch"(1). Der Raum wird somit nicht verdeckt, sondern durchsichtig, sichtbar gemacht. Dies gelingt auch, weil die Künstlerin nicht mit Bronze, Stein und anderen auf physische Präsenz und Beständigkeit gerichteten Materialien arbeitet, in denen immer auch ein Ewigkeitswille steckt, sondern mit Holzlatten, Textilien, Blechen, Pappen, Stoff, Schnüren, Ästen, Drähten, Klebeband, Gips, hart gewordenem Ton. Ob industrielles Reststück oder Naturmaterial, Gefundenes oder Artikel aus dem Baumarkt, alles wird mit gleicher Selbstverständlichkeit verwendet.

Diese "nicht-wertvollen", "nichtigen Materialien" (Schmidt) werden nicht deshalb ausgesucht, weil sich ein alltäglicher Gebrauch in sie eingeschrieben hat. Sie sind keine Dokumente vergangener und vergehender Zeit, dienen keiner poetischen Erzählung des Lebens (das trennt sie auch von den zeichenhaft aufgeladenen "armen Materialien" der Arte Povera). Die Wertlosigkeit des Zeugs, das Inge Schmidt benutzt, erlaubt ein freies, unbelastetes Arbeiten auf dem Weg zu plastischen Figuren, die eine vom Betrachter unabhängige Existenz, einen jeweils eigenen Stand behaupten. Zwar fühlen wir mit den Stücken mit, sorgen uns um ihre Wackeligkeit und Fragilität, aber sie laden uns nicht ein, sie zu berühren. Wir begegnen in ihnen einem abstrakt-visuellen Vokabular körperlicher Haltungen im Raum, werden aber von ihnen nicht selbst in unserem Körperempfinden berührt (im Gegensatz zu den physischen und psychischen Erfahrungen der Verunsicherung, die wir zum Beispiel durch die Skulpturen von Richard Serra und ihre riskanten Gewichtsverteilungen erleben). Es geht der Künstlerin, wie sie sagt, darum, Befindlichkeiten nachzuspüren und diese sind natürlich an den Menschen gebunden. Aber diese Suche erfolgt nicht, indem Inge Schmidt ihre Objekte der Banalität eines auf Zweck und Nutzen ausgerichteten Lebens angleicht, sondern indem sie ein eigenes Areal der Kunst begeht. Die "plastischen Stücke" verbinden das Offensichtliche mit dem Auratischen, sie tun vertraut und sind fremd, sie sind Kunststücke, selbst wenn sie uns an Möbel, Regale, Schränke, Lampenständer, Treppen, Geländer oder anderes erinnern.

Inge Schmidt interessiert sich dafür, wie Formen und Materialien zusammenkommen und zusammenhalten in Bündelungen, Wicklungen, Knoten, Kreuzen, Schnitten, Collagen und Montagen. Ihre direkten, erprobenden Handlungen zielen nicht auf ein handwerklich tadelloses, virtuos glattes Ergebnis. Vielmehr gelangt sie, wenn sie das Material bandagiert, klebt, locht, sägt, nagelt, zu sperrig-spröden, provisorisch-luftigen Objekten, die nicht aus der Planung, sondern aus dem Tun heraus entstehen und in denen Konstruktiv-Gebautes und vegetabil Gewachsenes nebeneinander existieren. Manche Stücke wie die aus Baulatten herausgesägten "Schnittstücke" stehen für sich am Ort, allein oder im Gespräch miteinander, streben (als ferne Erinnerungen an die "endlosen Säulen" von Konstantin Brâncusi) stelenartig empor. Andere Arbeiten führen Bewegungsmotive aus oder sind in der Beziehung ihrer Teile komplexer kombiniert und haben deshalb mehr damit zu tun, ihr Gleichgewicht zu finden, ihre Spannungen auszugleichen, nicht zu stolpern und zu fallen. Grundsätzliche Fragen nach den Eigenschaften der Skulptur, nach Stehen, Liegen, Tragen, Ruhen etc. werden so von der Künstlerin gleich mit diskutiert.

Neben den mehr linear-zeichnerischen Stücken, die mit ihren Gliedmaßen und staksigen Gelenken in den offenen Raum greifen und durch ein genaues wie prekäres Verhältnis von Stabilität und Instabilität gekennzeichnet sind, beschäftigt sich Inge Schmidt auch mit Räumen im Raum, mit Behältern, Kästen, Schachteln, Vogelhäusern, mit dem Verhältnis eines umschließenden Draußen zu einem umschlossenen Drinnen. Die Behälter stehen immer eine Spalt offen, haben Schlitze und Luken, verführen den Blick und weisen ihn ab. Dass sie etwas beherbergen, bleibt Vermutung und Geheimnis, es ist nicht einmal sicher, ob sie etwas schützen oder wegschließen. Wie alle Objekte von Schmidt können sie als Einzelgänger oder zu Familien versammelt auftreten.

Inge Schmidt hat in den vergangenen Jahrzehnten ein umfassendes Repertoire von Boden-, Tisch-, Stand-, Wandstücken erarbeitet, von handkleinen Gebilden bis zu größeren Objekten, die aber über das Maß der menschlichen Figur kaum je hinausgehen. Daneben ist ein zeichnerisches Werk entstanden, das mit dem plastischen Werk vielfach verbunden ist, allerdings nicht in der Weise wechselseitiger Vor- oder Nachbereitung. Plastik und Zeichnung werden von einer gemeinsamen Haltung vorangetrieben, einer spielerischen und zugleich disziplinierten Neugier, die sich nicht durch ein in Aussicht genommenes Ziel limitieren lässt, an keiner Stelle ist die Arbeit von Inge Schmidt bloße Erfüllung eines Konzepts. Weiterhin gibt es Verweisungen im Blick auf mediale Eigenschaften. So besitzt das "plastische Stück" zeichnerische Qualitäten, wenn es sich schmaler Holzlatten bedient, als seien sie in den Raum entfaltete Linien, während anderseits Zeichnungen wie plastische Objekte behandelt werden, indem die Künstlerin sie als räumliches Ensemble installiert, auf Konsolen stellt, als Leporello aufklappt. Es finden sich auch motivische Nachbarschaften, architektonische Versatzstücke, alltägliche Gegenstände neben abstrakten Formen und Rhythmen. In der Zeichnung erfolgt allerdings der Zugriff auf die menschliche Figur zuweilen abbildhafter, die Hand, der Arm, der Kopf, der Körper, und dann sind da noch die Landschaften und Tiere und Pflanzen, aus denen ein eigenes Vokabular der Welterkundung entsteht.

Inge Schmidt verwendet in ihren Zeichnungen gleichberechtigt Bleistift, Farbstift, Kreide, Pinsel, Acryl und Aquarellfarbe, selten isoliert, oft in Mischtechniken. Übermalungen von Fotos und Collagen kommen hinzu. Gegenüber den "plastischen Stücken", bei denen die Farbe als hell-blasse Abtönung eher die Funktion hat, Bauteile zu verbinden und Licht-Schatten-Akzentuierungen herzustellen, entfaltet sich die Farbe in den Zeichnungen freier und intensiver über die gesamte Skala. Trotz solcher Differenzierungen sind sich plastische und zeichnerische Arbeiten nah in ihrer grundsätzlichen Offenheit für unterschiedliche Materialien und gestalterische Gesten. Auch die Zeichnungen betonen das Instabile, Bewegte, Unabgeschlossene, Schwebende, befinden sich in ständiger Verwandlung und Überlagerung, kombinieren nicht hierarchisch Materialien und Formen. Aus dem Fluss der Linien steigen dann wie aus einem Meer dunkle Inseln auf oder es bilden sich lockere Gerüste aus nicht unbedingt verlässlich verbundenen zeichnerischen und collagierten Teilen. Jede Zeichnung beginnt neu, auch wenn sie zu Serien zusammengefasst wird.

In den Künstlerbüchern von Inge Schmidt finden das Plastische und das Zeichnerische eine gemeinsame Form. Sind es aber überhaupt Bücher? Jedenfalls keine Bücher, die vorschriftsmäßig gebunden sind, ausgestattet mit Inhaltsverzeichnis und Halbleinen und Lesebändchen und so, sondern Objekte aus gerissenen und geschnittenen Papieren, von oft unterschiedlichem, unregelmäßigem Format, sehr voll oder auch sehr leer, geheftet, genäht, gefaltet, gestapelt, durch voluminöse Papiere und satt aufgetragenes Malmaterial aufgespreizt. Manchmal wird ein Nagel durch den Papierkörper getrieben, damit er nicht auseinanderfällt. Inge Schmidt zeichnet, malt, klebt Verliebte Nasen, Blaue Montage, Eselsbrücken, Mandarine, Sennerinnen in ihre Bücher, wandert von Bild zu Bild. Ordentlich sehen die Gebilde nicht aus und sollen es auch gar nicht, denn perfekte Ergebnisse, luxuriöse Ausgaben letzter Hand sind gerade nicht erwünscht. Auch bei den Künstlerbüchern ist das Vorgehen der Künstlerin experimentell und frei, lustvolle, manchmal übermütige Erkundung.

Diese Haltung, die sich keinen starren Doktrinen unterwirft, hat ihr Pendant auch in den Titeln, die die Arbeiten nicht festlegen, sondern näher oder ferner umspielen, sie assoziativ öffnen und weitertreiben: Hasenplage, Frei laufende Vögel, Falsche Giraffen, Ganz falsches Argument, Verirrte Muhme, Investments 1-10, Sehr höfliche Geister, 2-3-1, Dreifach verschnürte Hypnose, Rundes Buch mit 9 dunklen Gestalten, Rüpel, 66 verbüßte Sünden, Haribo hoch mit Deuter, Roter Inhalt mit Gewicht, 3 x Händelei. Das ist doch witzig, humor- und phantasievoll und braucht zur Begründung keine großartigen metaphysischen Wahrheiten oder pädagogisch wertvolle Gesellschaftstheorien.

Die Kunst des Unvollkommenen von Inge Schmidt, die in der Ausstellung im Künstlerforum vielfältige Gespräche auf Tischen, am Boden, auf der Wand führt, ist auch keine Entgegnung auf eine zu vollkommen funktionierende Welt, die Fragilität der Werke verkündet nicht die Botschaft der Verletzlichkeit des modernen Menschen. Die Objekte und Zeichnungen haben nicht deshalb Fragmentcharakter, weil sie auf eine verlorene umfassende Ganzheit der Welt verweisen. Sie kommen vielmehr gut damit zurecht, die Welt ohne jeden agitatorischen, empörten Impetus als offenes unabschließbares Nebeneinander von Teilen anzunehmen. Die Kunst von Inge Schmidt ist sich ihrer Unsicherheit sicher, sie kann aber nur deshalb so beiläufig und regellos, so heiter gelassen wirken, weil sie so eigensinnig und entschieden formuliert ist, sie ist nicht leichtfertig, aber man atmet leicht in ihrer Nähe, sie scheint sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und fordert die Betrachter doch heraus.

Volker Adolphs

(1) Inge Schmidt im Interview mit Justinus Maria Calleen, in: Inge Schmidt. Plastische Stücke und Zeichnungen, Ausst.kat. Städtische Galerie im Georg-Meistermann-Museum Wittlich 2001 und Stadtmuseum Siegburg 2002, S:. 35-41, hier. S. 38.